Vor Probenbeginn haben wir den 1962 verstorbenen Autor Hermann Hesse und den Regisseur Moritz Beichl über einige der Themen "Demians" in ein fiktives Gespräch gebracht.
Die Antworten Hesses entstammen der Gesamtausgabe seiner Werke.
In "Demian" wird der Mensch als immer auf dem Weg, als unvollendet und vielgestaltig präsentiert. Wie steht ihr zu diesem Entwurf des Menschen?
Hesse: Der Mensch ist nichts Festes und Fertiges, sondern etwas Werdendes, ein Versuch, eine Ahnung, eine Zukunft, Wurf der Natur nach neuen Formen und Möglichkeiten. Der Mensch ist ein Übergang, die schmale gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist.
Beichl: Ich stimme Herrn Hesse zu, ich stelle mir das Leben als ständige Suche vor, bei der man nie ankommen kann und auch nicht ankommen sollte. Man erfüllt „Ziele“ – oder auch nicht – und findet neue. Durch die Bewegung wird man lebendig. Wir werden in unserem Leben immer neue Identität finden und erfinden und es wird nie die „richtige“ geben – oder wenn doch, dann nur für einen Augenblick. Der Mensch hat keinen Kern. Man kann sich immer neu suchen und immer neu erschaffen.
In "Demian" wird die Möglichkeit des Tötens in Kauf genommen, um sich zu befreien, um die Angst hinter sich zu lassen, um dem Neuen die Chance zu geben zur Entfaltung zu kommen. Kann es in einer Welt des Mordens überhaupt Frieden geben? Legitimiert der Friede die vorherige Gewalt?
Hesse: Es gibt Frieden, gewiss, aber nicht einen der andauernd in uns wohnt und uns nicht mehr verlässt. Es gibt nur einen Frieden, der immer und immer wieder mit unablässigen Kämpfen erstritten wird und von Tag zu Tag erstritten werden muss.
Beichl: Frieden erkämpfen zu müssen, erscheint mir nicht zielführend. Auf der anderen Seite verstehe, respektiere und bewundere ich teilweise auch Leute, die für ihre Standpunkte einstehen und kämpfen. Dieser Kampf ist wichtig. Ich bin mir aber sehr sicher, dass dieser Kampf mehr mit Worten als mit Gewalt stattfinden muss.
"Demian" ist auch ein Roman über das Erwachsenwerden. Was macht diesen Lebensabschnitt so kompliziert?
Beichl: Was das Erwachsenwerden so anstrengend machen könnte, ist die Frage, welche Dinge der vorherigen Generation man nachahmen will und gegen welche man sich stellen will. Welcher Mensch bin ich und welcher Mensch möchte ich sein? Wo fühle ich mich zugehörig? Zu welchen Menschen möchte ich Distanz aufbauen? Will ich so ein Leben führen, wie es meine Eltern für mich dachten oder möchte ich etwas ganz Anderes schaffen? Habe ich alle Möglichkeiten der Welt zur Verfügung? Und krönend die Frage: Was will ich überhaupt? Möchte ich eine heterosexuelle, monogame Beziehung führen wie es vielleicht meine Eltern tun oder andere Konzepte des Liebens kennenlernen? Möchte ich Arzt werden, um einen „sicheren“ Job zu haben oder möchte ich der Unsicherheit ins Auge sehen und etwas ganz Verrücktes machen? Und dann würde ich noch allen Jugendlichen raten: es ist wichtig sich diese Fragen zu stellen und gleichzeitig ist es wichtig, dass man die gar nicht alle beantworten können muss. Man kann auch erstmal Arzt werden und dann immer noch nach Australien ziehen und Schafe hüten. Entwicklung und Erwachsenwerden ist kein Wettbewerb.
Ich bin ja selbst erst 25 Jahre alt, und ja klar, das Erwachsenwerden ist sehr kompliziert. Aber ich bin mir sicher, dass es immer wieder im Leben zu großen Fragen kommt und man das Gefühl hat, man muss nochmal „von vorne anfangen“. Den Gedanken, dass man irgendwann „erwachsen“ ist, angekommen ist, seine Welt fest zementiert hat, finde ich schrecklich. Ich denke, man sollte es sich in seiner Welt nicht zu komfortabel machen und sollte ständig dahingehen, wo es weh tut. Auch wenn es weh tut.
Hesse: Auf dem Weg von der Jünglingszeit zum Mannesalter sind die beiden Hauptstufen: das Innewerden und Bewusstmachen des eigenen Ich, und dann die Einordnung dieses Ich in die Gemeinschaft. Jedes Leben ist ein Wagnis und das Gleichgewicht zwischen den persönlichen Gaben und Trieben und den sozialen Forderungen muss immer wieder neu gefunden werden. Es geht nie ohne Opfer, nie ohne Fehler. Und auch wir Alten und scheinbar Arrivierten und Gefestigten, stehen nicht über den Zweifeln und Fehlern, sondern mitten darin.
Emil Sinclair stößt sich von der elterlichen Welt samt ihrer rigiden Religionsvorstellungen ab. Er ist fasziniert von Demians Gegenentwurf, der das Dunkle nicht verurteilt, sondern als Teil des Menschen anerkennt. Sein Religionskonzept integriert das vormals Teuflische. Wie haltet ihr es mit der Religion?
Hesse: Ich halte es nicht für das Wichtigste welchen Glauben ein Mensch hat, sondern dass er überhaupt einen hat, dass er die Leidenschaft des Geistes kennt, dass er bereit ist, seinen Glauben, sein Gewissen zu verteidigen gegen die ganze Welt, gegen die Majorität und die Autorität. Ich habe nie ohne Religion gelebt und könnte keinen Tag ohne sie leben, aber ich bin mein Leben lang ohne Kirche ausgekommen.
Beichl: Hier widerspreche ich Herrn Hesse ein bisschen. Ich lehne Kirche als Institution ab. Ich respektiere den Glauben anderer Menschen, denke aber nicht, dass ein Mensch an etwas glauben muss. Es ist schön, wenn man an sich selbst glauben kann, aber auch da gehören Selbstzweifel dazu. Ich bin selbst wie Sinclair fasziniert von einem Gegenentwurf, der das Dunkle nicht verurteilt. Ich denke an eine freie Welt ohne Moral und ohne Gewissen. Religion führt oft dazu, dass man Teile von sich ausklammern oder unterdrücken möchte. Ich glaube, dass man diese „verbotenen“ Phantasien auch pflegen und sie produktiv umwandeln kann. Wie das funktioniert, weiß ich nicht. Ich denke, dass Sinclair und Demian am Ende eine falsche Abzweigung wählen. Wenn jemand eine Antwort auf diese Frage weiß, kann er sie mir gerne mitteilen.
"Demian" spielt vor dem Horizont des aufkommenden Ersten Weltkrieges. Heute befinden wir uns erneut in einer globalen Krisensituation. Ist in solchen Zusammenhängen persönliches Glück überhaupt möglich und wenn ja, ist es erlaubt? Hesse: Durch die Düsterkeit der Welt und ihre teuflische Bedrohung sollen wir uns nicht einschüchtern und verbittern lassen. Ob diese Welt morgen untergehe oder nicht ist nicht unsere Verantwortung. Wir müssen und wollen das, was uns an ihr noch erfreulich ist, und sei es nur der Himmel mit seinem zauberhaften Gewölk, so lang kosten und preisen, als wir da sind.
Beichl: Es fällt mir oft schwer umzusetzen, aber ich denke, man sollte wegen globaler Krisen nicht sein persönliches Glück vergessen. Gerade habe ich wieder von einem Raketenstart Nordkoreas über Japan gelesen, und natürlich macht mich das traurig und wütend. Auf der anderen Seite: Liebeskummer kann oft viel größer sein als die Angst vor dem Untergang der Welt. Man sollte dennoch die globalen Entwicklungen nicht ignorieren à la „ich alleine kann eh nichts bewirken“. Ich bin mir sicher, dass der Einzelne, etwas bewirken kann. Die Welt so zu akzeptieren wie sie ist, kann ich leider und glücklicherweise nicht: ich bin nicht mit den Zuständen einverstanden. Es fällt mir sehr oft schwer daran zu glauben, dass es in der Zukunft eine „bessere“ Welt gibt. Wenn ich aber nicht mehr für diese bessere Welt kämpfen würde, dann könnte ich auch gleich begraben werden.
Was macht für euch künstlerische Arbeit aus?
Hesse: Der Künstler muss sämtliche Teile des Bildes, auch die noch gar nicht gemalten und sichtbaren, wirklich gegenwärtig haben und mitberücksichtigen, das vielmaschige Netz sich kreuzender Schwingungen zu empfinden. Das ist erstaunlich schwer und glückt selten. Dabei lässt sich mit Fleiß allein kein Kunstwerk machen. Dagegen unterscheidet gerade das den Dilettanten vom Künstler, dass der Dilettant meist mit dem ersten Einfall schon zufrieden ist, dass er das sprachliche, das rhythmische Durcharbeiten scheut. Ohne die Beteiligung des Verstandes, der Kritik der Selbstkritik würde jede Kritik sehr schnell verkommen. Wie denn auch jeder Dilettant denkt, „wie kommt es viel auf Worte, die Versmaße und all das an, wenn nur das Herz auf dem rechten Fleck sitzt“. Aber eben das genügt nicht.
Herr Hesse, das klingt abstrakt. Klammern Sie ihre eigenen Empfindungen völlig aus?
Hesse: Nein, manchmal wird der Schmerz beim Schreiben flüssig und fließt auch noch durch die holprigsten Trochäen ab.
Beichl: Für mich ist künstlerische Arbeit notwendig für die Gesellschaft und in jedem Fall politisch. Aber wir können freier mit Themen umgehen als die „gewöhnliche Politik“, weil wir im Endeffekt Künstler sind. Das Theater ist so ein toller Ort: da treffen sich Menschen an einem Ort, um eine Geschichte zu erleben, ein Teil dieser Menschen erzählt die Geschichte, die anderen hören zu. Am Ende kann man mit neuen Gedanken nach Hause gehen und darüber sprechen. Das ist so simpel und genial.
Meine eigenen Empfindungen möchte ich unbedingt in meine Arbeit einfließen lassen. Aber nicht nur die: sondern auch meine Neugierde an Menschen und der Welt, meine Phantasie, meine Sensibilität sowie Zorn und Kritik. Demian und Hesse: ich liebe die beiden. Gleichzeitig kämpfe ich mit ihnen und hoffe, dass dieser Kampf auf der Bühne sichtbar sein wird.
Foto: Sinje Hasheider